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Mit Georg Friedrich Händel in den Konzentrationslagern Auschwitz und Ravensbrück
"Händels Oratorien, Quelle edelster Kraft"
In Erinnerung an die Händelforscherin
Marianne Gundermann
(Nom de plume Johanna Rudolph)
Marianne Gundermann, Amsterdam 1941, Passfoto
© Landesarchiv NRW-Abteilung Rheinland-RW 58 Nr. 3991, Bl. 51
Geboren 1902 in Crimmitschau, gestorben 1974 in Berlin. Jüdischer Herkunft. Vater Michael Gundermann, Mützenmacher; Mutter Clara geb. Schlewinsky. Aufgewachsen in Berlin. Außergewöhnliche, unkonventionelle Händelforscherin; sowie Publizistin und Frauenrechtlerin.
Ab 1917/18 Mitarbeit als Stenotypistin bei der von Siegfried Jacobsohn gegründeten und später von Carl von Ossietzky herausgegebenen Wochenzeitschrift "Die Weltbühne". In den 20er Jahren tätig als Essayistin, Literatur- und Musikkritikerin. Von 1931 bis 1933 Chefredakteurin der von Willi Münzenberg verlegten auflagestarken feministischen Illustrierten Zeitschrift "Der Weg der Frau". 1933 Flucht aus Deutschland.
1934 konnte sie ihren 1923 geborenen Sohn Rudolf im Interdom vor den Nazis in Sicherheit bringen. Interdom ist ein internationales Kinderheim in der Stadt Ivanovo in Russland.
"Ein Freund von Rudolf Gundermann, Chavdar Dragojchev aus Bulgarien, hat eine kleine Erinnerung an ihn hinterlassen:
'Rudof Gundermann war ein wunderbarer, kluger Kerl. Verspielt und pingelig, liebte leidenschaftlich klassische Musik. Er träumte davon, Akustik-Architekt zu werden, um dann Konzertsäle und Opernhäuser zu bauen. War etwas verschlossen, aber für seine jungen Jahre sehr belesen. Der junge Deutsche besaß eine philosophische Denkweise. Schon in seiner Jugend hat er Bücher wie „Dialektik der Natur“ [von Friedrich Engels] und „Anti-Dühring“ [Friedrich Engels unter Mitarbeit von Karl Marx] gelesen. Seine großen schwarzen Augen leuchteten vor Freundlichkeit, die er schüchtern bedecken wollte mit Witz und manchmal mit sarkastischen Bemerkungen. Er ging [1941] als Freiwilliger [bei der Roten Armee] an die Front und starb in den frühen Tagen des Krieges.' "
Mitgeteilt am 21.10. 2019 von Frau Asin Tabari aus Mailand. Sie wuchs auch im Interdom auf.
Nach einem Jahr Aufenthalt in Schweden, kehrte sie 1946 nach Deutschland in die Sowjetische Bezatzungszone zuzück. In der 1949 gegründeten DDR wurde sie Mitarbeiterin des Staatlichen Rundfunkkomites sowie wissenschaftliche Mitarbeiterin des Ministeriums für Kultur. Von diesen Positionen aus engagierte sie sich erfolgreich in der israelfeindlichen DDR für die Popularisierung von Händels biblischen Oratorien. Diese waren für sie - im Angesicht der Gaskammern und Verbrenunngsöfen in Auschwitz und Ravensbrück - eine "Quelle edelster Kraft". Wie etwa die Oratorien: Joseph und seine Brüder (Joseph and his Brethren), Israel in Ägypten (Israel in Egypt), Saul, Salomo (Solomon), Belsazar (Belshazzar), Judas Maccabäus oder Jephta. Als Interpret von Händels Oratorien standen ihr der Dirigent Helmut Koch mit seinem Berliner Rundfunkchor und dem Sinfonieorchester des Berliner Rundfunks zur Verfügung. Gesungen wurden die Oratorien in Deutsch, in der Übersetzung von Georg Gottfried Gervinus (1805-1871).
Ab 1952 war sie Mitorganisatorin der Händel-Festspiele in Halle an der Saale. Unter dem Pseudonym "Johanna Rudolph" verfasste sie - im Andenken an ihrem Sohn Rudolf Gundermann (1923 -1941) - die fundamentale zweibändige Studie Händelrenaissance - Händels Rolle als Aufklärer. Hierin stellt sie Händel nicht nur in den Kontext seiner Zeit, nämlich dem Zeitalter der Aufklärung, sondern sie beweist, dass Händel durch sein Oratorienschaffen von England aus ein Teil der europäischen Aufklärung wurde. In ihrer zweibändigen Händelstudie "paaren sich Weite des Gesichtspunktes mit genauer Kenntnis des Details." © Aufbau-Verlag 1960 (I) und 1969 (II).
In den Fängen der GESTAPO
Marianne Gundermann (Ps. Johanna Rudolph). Photo: GESTAPO Düsseldorf 1944.
© Landesarchiv NRW-Abteilung Rheinland-RW 58 Nr. 3991, Bl. 51
Aktennotiz des Staatsgefängnisses Düsseldorf vom 19. Juni 1944:
"Die Gundermann Marianne ist am 19. 6. 1944 nach Auschwitz verlegt worden."
© Landesarchiv NRW-Abteilung Rheinland-RW 58 Nr. 3991, Bl. 51
Marianne Gundermann über Händel
"Man darf bermerken, dass Spätzeiten nichts mit ihm anzufangen wissen. Wohlweislich lässt Thomas Mann den Namen Händel im 'Doktor Faustus' unerwähnt. Händel war zu gesund für den Tonsetzer der bürgerlichen Endzeit Adrian Leverkühn. Da ist nichts Dunkles und Mystisches, trotz riesiger Dimensionen nichts Wolkiges oder Verfließendes und andererseits auch nichts provinziell Verkrampftes."
Marianne Gundermann gegen die Etiketierung Händels als "Barock-Komponist"
*
"Jede Etiketierung Händels als eines Musikers 'des Absolutismus', eines
'Barockmusikers' ["Barock-Komponisten"] ... ist unsinnig und verdient so entschieden wie möglich bekämpft zu werden. [...] Ausdrücke wie 'Barock', 'alte
Musik' in bezug auf Bach und Händel grassieren, vielleicht auch, weil man meint, dem Publikum diese Musik durch 'farbig' oder 'exotisch' wirkende Beiwörter schmackhaft machen zu müssen. Natürlich
wird auf solche Weise nur größere Fremdheit dieser Musik gegenüber erzeugt."
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Zwischenbemerkung von hmt
Marianne Gundermanns Schriften zur Musik
Position in der DDR nicht gesichert
In der DDR war die
Position von Marianne Gundermann keinesfalls gesichert. Denn als beispielsweise 1951 der Abteilungsleiter im Ministerium für Staatssicherheit Paul Laufer*
ihre Akte überprüfte, stellte er missbilligend fest, dass sie früher zur Fraktion der "Versöhnler"** gehörte und außerdem Jüdin
sei.*** Im Januar 1953 veröffentlichte das Neue Deutschland - Zentralorgan der SED, wo M. Gundermann (obwohl kein Parteimitglied) unter ihrem Pseudonym Johanna Rudolph Kulturredakteurin war, scharfe
Angriffe gegen vermeintlich „demoralisierte bürgerliche jüdische Nationalisten“. Wegen ihrer jüdischen Herkunft musste sie befürchten, damit könne auch sie mit gemeint sein. Noch im
selben Jahr wurde sie und ihr Chefredakteur Rudolf Herrnstadt, ebenfalls jüdischer Herkunft, entlassen. Herrnstadt hatte über das Neue Deutschland die diktatorischen Methoden kritisiert,
mit denen die Regierung die Normenerhöung im VEB**** Wohnungsbau durchsetzte. Auch wollte er den Machthaber Walter Ulbricht
stürzen.
* Laufer war der Führungsoffizier von Günter Guillaume, jenem Spion im Kanzleramt von Willy Brandt.
** "Versöhnler" bildeten eine Fraktion innerhalb der KPD, sie waren gegen die Stalinisierung der Partei und traten für eine Einheitsfrontpolitik mit der SPD sowie den freien Gewerkschaften gegenüber Hitler ein.
*** Quelle: Michael F. Scholz, "Skandinavische Erfahrungen erwünscht?", S. 153. Franz Steiner Verlag, Stuttgart.
**** VEB : Volkseigener Betrieb.
Marianne Gundermann als "Johanna Rudolph" über Händels Oratorium Belsazar:
"Belsazar - das ist die zum Unmenschen herabgesunkene
Figur einer vermoderten Ordnung, die sich pathetisch auf alten Brauch und Sitte wie auf Freiheit beruft. Den eigenen Staat, die Stadt, das Volk bedenkenlos dem Untergange preisgebend, häuft
dieser Typus Frevel auf Frevel:
Let order vanish; liberty alone,
Unbounded liberty the night shall crown.
Laßt Ordnung schwinden: Freiheit heut' uns lacht,
Ohn' Schranken Freiheit kröne diese Nacht.
Von der Schar jüdischer Sklaven, die anklagende Zeugen des wüsten Gelages mit den geraubten Tempelgefäßen werden, erkühnt Belsazar sich zu sagen:
'They envy liberty they cannot taste', sie, die Judenschar 'mißgönnt die Freiheit uns, die sie entbehrt'.
Einer Nachwelt, welche die unauslöschlichen Schandtaten von Auschwitz, Maidanek und Buchenwald als Gipfel des Abscheus
erkennen lernte, bietet sich hier das Schauspiel, wie sich ein Machthaber an der Qual und Erniedrigung der Gefangenen weidet.
Wie im 'Messias' das geschichtlich determinierte 'Halleluja' am Ende des Zweiten Teils, so ist im 'Belsazar' der Perserchor ['Oh glorious prince! - O tapfrer Fürst'] mit seiner gewaltigen Doppelfuge
am Schluß des zweiten Akts Höhepunkt des gesamten Werkes.
Cyrus hatte die tapfre Schar seiner Krieger aufgefordert, das Schwert nicht mit wüstem Mord zu beflecken, da es nur gelte, den Urheber des Frevels, Belsazar, zu vernichten." [Cyrus: "To tyrants only I'm a foe." - "Tyrannen nur bin ich ein Feind."].
(M. Gundermann | J. Rudolph; Händelrenaissance II, Händels Rolle als Aufklärer. Aufbau-Verlag 1969, S. 301 u. 304)
And war and slav'ry be no more | Und Krieg und Sklav'rei wär'
verbannt
O glorious prince, thrice happy
they
Born to enjoy thy future sway!
To all like thee were sceptres giv'n,
Kings were like gods, and earth like Heav'n.
Subjection free, unforc'd, would prove
Obedience is the child of love;
The jars of nation soon would cease,
Sweet liberty, beatific peace
Would stretch their reign from shore to shore,
And war and slav'ry be no more.
O tapfrer Fürst! dreifach beglückt,
Wer einst dein künftig Reich erblickt!
Wär' jeder Thron dem deinen Gleich
Dann wär' die Erd ein Himmelreich,
Ein frei Geschlecht, ohn Zwang und Not
Befolgt aus Liebe dein Gebot:
Der Streit der Völker hätt' ein End.
Freiheit und Fried' und sel'ge Zeit
Trügen ihr Reich von Strand zu Strand,
Und Krieg und Sklav'rei wär' verbannt.
(Händel; Belsazar, Schlußchor 2. Akt. Deutsche Übersetzung: G. G. Gervinus u. M. Gundermann)
https://www.youtube.com/watch?v=SyKkG0cX8ME
Chor: O tapfrer Fürst / Oh glorious prince
Marianne Gundermann als "Johanna Rudolph" über Händels "Israel in Ägypten"
"Als planmäßig durchdacht, von Händels exemplarischem Gegenwarts- und Geschichts-bewußtsein geleitet, erweisen sich die lapidaren Anfänge solcher
Oratorien wie "Israel in Ägypten", worin soziale und nationale Befreiungsideen ineinandergreifen. [...] Eine außerordentliche Kraft geht von den Chören dieses Werkes aus, von den Chormassen und
Massenchören, in denen sich das Volk selbst verkörpert. Der Zorn des für seine Freiheit von Fronarbeit und Unterdrückumg entflammten Volkes erklärt die Vehemenz dieser Chöre."
("Händelrenaissance" II, S. 264-265)
NB! Um den Exodus von Fabrikarbeitern zu verhindern, verbietet ihnen England 1732 die Auswanderung nach Amerika. (Quelle; Händelrenaissance II, S. 256)
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Appendix
Ernst Hermann Meyer
Für das musikalische Erbe Händels engagierte sich in der DDR, neben M. Gundermann, besonders auch der Komponist, Musikwissenschaftler und -soziologe Ernst Hermann Meyer (1905-1988).
Seine jüdischen Eltern wurden in der Progromnacht 1938 (Vater) und 1942 in Auschwitz (Mutter) ermordet. Meyer selbst konnte sich nach Großbritannien in Sicherheit bringen. 1948 kehrte er mit seiner britischen Ehefrau nach Deutschland in die Sowjetische Besatzungszone zurück. 1952 wurde er Mitbegründer der Händel-Festspiele in Halle und Vorsitzender der Händelgesellschaft. Von 1967 bis zu seinem Tod 1988 war er Präsident der Internationalen Georg-Friedrich-Händelgesellschaft, Halle.* Darüber hinaus war Meyer von 1968-1982 Präsident des Verbandes der Komponisten und Musikwissenschaftler in der DDR.** Anschließend bis zu seinem Tod Ehrenpräsident.
Meyer stand M. Gundermann (J. Rudolph) beim Verfassen ihrer HÄNDELRENAISSANCE Band II -
Händels Rolle als Aufklärer, mit Rat und Tat zur Seite. Im Vorwort vermerkt sie dazu:
"In ganz besonderem Maße gilt mein Dank für wertvolle Ratschläge und ständige Unterstützung beim Zustandekommen dieser Arbeit Herrn Professor Dr. Ernst Hermann Meyer. Präsident der Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft, em. Professor für Musikgeschichte der Humbold-Universität zu Berlin."
1972 ließ Ernst H. Meyer auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde
eine Gedenkstätte für seine acht in den Konzentrationslagern Auschwitz, Jungfernhof/Riga, Majdanek und Theresienstadt ermordeten
Familienmitglieder errichten. Sein in der Reichsprogromnacht ermordete Vater wurde bereits 1938 dort bestattet.
* Meyers Nachfolger wurde Professor Dr. sc. Walther Siegmundt-Schultze.
** Vizepräsident dieses Verbandes war von 1968-1989 der Mitbegründer Professor Dr. sc. Walther Siegmund-Schultze.